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Die Medizin der Zukunft

Dialog Gesundheit

„Willkommen in der Zukunft der Medizin“ – so der Leitsatz der MedUni Wien. Doch wie viel Zukunft steckt tatsächlich schon im Alltag unseres Gesundheitssystems? Was muss passieren, damit aus innovativer Forschung und künstlicher Intelligenz echte Fortschritte für Patient:innen entstehen?

In der sechsten Folge von »Dialog Gesundheit« spricht Uta-Maria Ohndorf mit dem Rektor der Medizinischen Universität Wien, Markus Müller, über den schmalen Grat zwischen medizinischer Hochtechnologie und systemischer Realität. Und darüber, wie wir es schaffen können, mehr gesunde Lebensjahre für alle zu ermöglichen.

Auf einen Blick:

  • KI für mehr Menschlichkeit: Zeit wird zur wertvollsten Ressource

  • Versorgungsrealität: Viele Menschen ziehen sich aus dem System zurück, Prävention kommt zu kurz

  • Gesundheit als Haltung: Neben Strukturveränderungen braucht es Eigenverantwortung und Vertrauen

Zwischen Mensch und Maschine

Manchmal braucht es nur einen Moment, um zu erkennen, wie weit die Medizin bereits gekommen ist und wohin sie sich noch entwickeln kann. Markus Müller schildert einen dieser Gänsehautmomente: Ein Patient mit ALS (Amyotrophe Lateralskelrose), vollständig gelähmt, kommuniziert dank einer KI-gestützten Neuroprothese binnen fünf Tagen wieder mit seiner Umwelt. Eine Technologie, die Gedanken über Hirnströme erkennt und in Sprache umwandelt: Was früher Science-Fiction war, ist heute Realität.

Für Markus Müller verkörpert dieses Beispiel den Aufbruch in eine neue Ära der Medizin: eine Medizin, die hochindividuell ist, interdisziplinäres Wissen vereint und durch Digitalisierung neue Möglichkeiten schafft. Technologie wird dabei nicht nur zur Ergänzung, sondern hilft sogar, verloren geglaubte Fähigkeiten wiederherzustellen.

Der stille Rückzug

So beeindruckend der technologische Fortschritt ist, so ernüchternd bleibt oft der Blick in den Versorgungsalltag: Präventionsangebote werden selten genutzt, Empfehlungen von Fachkräften bleiben ungehört und Diagnosen erfolgen vielfach zu spät. Zahlreiche Patient:innen fühlen sich überfordert oder im Stich gelassen.

Gleichzeitig sind es auch viele Menschen innerhalb des Systems – Pflegende, Therapeut:innen, Ärzt:innen – die sich zunehmend zurückziehen. Belastungen durch Personalmangel, hohe Arbeitslast und wenig Zeit führen zu dem, was als „Silent Exit“ bezeichnet wird. Studien wie die von Kang (2023)1 belegen, dass immer mehr Beschäftigte im Gesundheitswesen sich auf das absolut Notwendige beschränken – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht mehr können.

„In Österreich werden 95 % des Gesundheitsbudgets für Therapie ausgegeben, aber kaum jemand fragt: Was wäre, wenn wir früher ansetzen?“ – Uta-Maria Ohndorf

Daten: Die ungenutzte Ressource

Während die medizinische Forschung auf immer feinere Diagnostik und präzisere Therapien setzt, bleiben viele Datenpotenziale im System ungenutzt. Laut der österreichischen Datenstrategie (Digital Austria, 20242) verhindern fragmentierte Systeme, fehlende Standards und organisatorische Barrieren bislang eine effektive Nutzung der verfügbaren Gesundheitsdaten. 

Ein Beispiel dafür, wie es anders gehen könnte, liefert das Vienna Prevention Project. Das ist eine groß angelegte Kohortenstudie mit 20.000 gesunden Personen, in der moderne Technologie – von KI-gestützter Bildauswertung bis zu nicht-invasiver Diagnostik – mit Präventionsforschung verknüpft wird. Ein Projekt, das zeigen will: Prävention kann konkret sein. Und vor allem wirkungsvoll.

KI als Wegbereiter für echte Nähe

Was paradox klingt, könnte genau die Lösung sein: Digitalisierung macht den Weg frei für mehr menschliche Nähe. Markus Müller betont diesen Zusammenhang: Wenn künstliche Intelligenz Aufgaben wie Bilddiagnostik übernimmt und bei Auswertungen unterstützt, bleibt Ärzt:innen mehr Zeit für das Wesentliche. Das Gespräch mit den Patient:innen, das Zuhören, das Verstehen.

„Deep Medicine“ nennt das der US-Kardiologe Eric Topol in seinem gleichnamigen Buch und meint damit eine Medizin, in der KI nicht ersetzt, sondern befreit. Angesichts von Personalmangel, Informationsflut und zunehmendem Druck im Gesundheitssystem wird eines zur entscheidenden Ressource: Zeit für Menschen. KI ist dabei nicht die Konkurrenz zu Ärzt:innen, sondern die Voraussetzung dafür, dass der Mensch im Mittelpunkt bleiben kann.

„Die Sehnsucht nach echter menschlicher Interaktion ist groß: bei Ärzt:innen genauso wie bei Patient:innen.“ – Markus Müller.

Gesundheit ist (auch) eine Frage der Haltung

Prävention scheitert nicht nur an fehlenden Angeboten, sondern meistens schon an der inneren Einstellung: „Es wird sich schon jemand kümmern“, beschreibt Markus Müller die verbreitete Haltung im Umgang mit Gesundheit. Was fehlt, sei Eigenverantwortung und Vertrauen.

Gerade Letzteres sei in den letzten Jahren brüchig geworden – durch eine Flut an teils widersprüchlichen Informationen, die die Orientierung erschweren und Vertrauen untergraben. Auch ständige Veränderungen und systemische Komplexität verstärken das Gefühl von Unsicherheit. Entscheidend sind eine glaubwürdige Kommunikation – etwa von Ärzt:innen, Institutionen oder Medien gegenüber Patient:innen – und eine stärkere Gesundheitsbildung (Health Literacy) durch Schulen und das Gesundheitssystem. Genauso wichtig ist ein neues Selbstverständnis von Ärzt:innen als vertrauensvolle Begleiter:innen.

Hightech & Haltung

Die Medizin der Zukunft beginnt nicht erst im Labor. Sie beginnt in der Haltung, mit der wir auf Gesundheit blicken. In der Bereitschaft, Technologie als Werkzeug für Menschlichkeit zu verstehen. Und in dem Mut, Entscheidungen zu treffen– sei es im Gesundheitssystem oder in der individuellen Prävention –, die heute unbequem sind, aber morgen mehr gesunde Lebensjahre ermöglichen.

Prävention, Digitalisierung und der sinnvolle Einsatz von Gesundheitsdaten sind dabei keine Nebenschauplätze, sondern gehören ins Zentrum einer modernen Gesundheitsversorgung, die nicht nur heilt, sondern erhält. Ein System, das Menschen nicht erst sieht, wenn sie krank sind, sondern sie frühzeitig begleitet, bevor es so weit kommt. Was braucht es also, damit diese Zukunft auch im Alltag ankommt? Die Antwort liegt in der Technologie – aber auch in uns.

1 Kang (2023) (abgerufen am 13.08.2025)2 Digital Austria, 2024 (abgerufen am 13.08.2025)