skip to content

Zwischen Wartezimmer und eMedikation: Wie Innovation in der Praxis ankommt

Dialog Gesundheit Podcast

Es ist früh morgens in einer allgemeinmedizinischen Praxis in der Steiermark. Ein Patient kommt mit unklaren Brustschmerzen in die Ordination und hier wartet auch schon eine Mutter mit ihrem fiebrigen Kleinkind. In Österreich gibt es rund 150 Millionen Patient:innenkontakte pro Jahr in Ordinationen, mehr als die Hälfte davon in der Allgemeinmedizin. Der Alltag in einer Ordination ist demnach oft komplexer, als gedacht. Alexander Moussa, Allgemeinmediziner mit Praxis in Hartberg und engagierter Standesvertreter, kennt diese Realität genau.

In dieser Folge von "Dialog Gesundheit" spricht Uta-Maria Ohndorf mit ihm darüber, wie eine moderne Praxis aufgestellt sein muss, um aktuelle Herausforderungen zu meistern und die Bevölkerung dabei zu unterstützen, nicht nur länger, sondern auch gesünder zu leben. Im Mittelpunkt stehen dabei Digitalisierung, vernetzte Gesundheitsdaten und klare Strukturen: keine Schlagwörter, sondern Voraussetzungen, ohne die eine ärztliche Praxis heute nicht bestehen kann.

Auf einen Blick: 

  • Moderne Technik ist heute schon Teil der Praxis: Digitalisierung entlastet, kann aber nicht ersetzen. 

  • Ärzt:innen als Lotsen: mehr Orientierung im Gesundheitssystem und Vertrauen als Kernressource.

  • Datenvernetzung im System verhindert Blindflüge: je vollständiger, desto sicherer die Entscheidung.

Priorisieren, entscheiden, handeln

Alexander Moussa hat seine Praxis in eine Terminordination überführt – mitsamt klaren SOPs (Standard Operating Procedures), Triage, Rollenverteilung und Platzhaltern für Akutes. Das Ziel dabei: Planbarkeit für Team und Patient:innen, ohne jene zu verlieren, die akut Hilfe brauchen – vom verletzten Kind bis zur allergischen Reaktion.

Wer morgens in die Ordination zur Arbeit kommt, muss sofort wissen, welche Fälle dringend sind, welche geplant und was zu tun ist, wenn Patient:innen überraschend kommen. Denn zwischen „Ohrenschmerzen“ und „Herzproblem“ liegt nicht nur eine medizinische, sondern auch eine organisatorische Welt. Genau hier zeigt sich, wie eng medizinische Qualität und Praxisorganisation zusammenhängen. Der Arzt in Hartberg ist überzeugt: Eine Praxis, die strukturiert arbeitet, kann auch auf Unvorhergesehenes reagieren – und zwar ohne Qualitätsverlust.

Lotse statt Gatekeeper

Der engagierte Standesvertreter lehnt das Wort Gatekeeper für Allgemeinmediziner:innen ab: Hausärzt:innen verwehren keine Versorgung, sondern lotsen die Patient:innen durch das Gesundheitssystem. 

Und diese Orientierung wird wichtiger, weil Patient:innen immer häufiger mit schwammigen Diagnosen aus Internet- und KI-Recherchen (ChatGPT, Google, Perplexity) kommen. Der Zugang zu dieser ungefilterten Informationsflut kann dabei für Angst und Verunsicherung sorgen. Um Personen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen aufzufangen, braucht es Zeit und Vertrauen – und Strukturen, die diese Zeit freischaufeln.

„Die Allgemeinmediziner:innen agieren als Lotsen im System, mit Diagnostik als ihrem Kompass.” – Uta-Maria Ohndorf

Smart am Telefon, präsent im Gespräch

Wer möchte, umgeht die Warteschleife in Moussas Praxis und spricht mit einem digitalen, KI-gestützten Assistenten. Dieser übernimmt ausschließlich administrative Anliegen, keine medizinischen: Er informiert über Impfungen und Vorsorge, erklärt Terminarten, sammelt Anliegen, bereitet sie strukturiert auf und spielt sie ans Team aus. Die Akzeptanz ist dabei laut Alexander Moussa altersunabhängig: Manche jungen Menschen wollen lieber direkt mit dem Team sprechen, während ältere den Assistenten oft sehr schätzen.

In der Sprechstunde wird aktuell ein Dokumentations-Assistent getestet, der Gespräche strukturiert mitschreibt und als kompakten Eintrag zurückspielt. Das macht Termine nicht kürzer, aber ermöglicht „Keyboard-Liberation“, also die Zuwendung zur Person statt zum Computer.

„Die Digitalisierung geht nicht weg. Sie ist ein wichtiges Tool und das sollten wir mitgestalten.” – Alexander Moussa

Netzwerk statt Einzelkämpfer

Eines der zentralen Themen im Dialog ist der Austausch von Gesundheitsdaten. Für Moussa ist klar: Patient:innensicherheit hängt von vollständigen und aktuellen Informationen ab – egal, ob sie in der Praxis, im Krankenhaus oder in der Apotheke gebraucht werden.

Fehlende oder unvollständige Daten können zu Doppeluntersuchungen, Fehlentscheidungen oder gefährlichen Wechselwirkungen führen.

Sein Appell: Daten dürfen nicht in Silos verschwinden. Wenn Systeme interoperabel werden, entsteht ein echter Mehrwert – für alle Mitarbeitenden aus dem Gesundheitsbereich, aber vor allem für Patient:innen.

Viel Kontakt, wenig Minuten

Die Allgemeinmedizin ist in Österreich für den Großteil der jährlichen Ordinationskontakte verantwortlich, berichtet Moussa. Die Termine sind oft sehr kurz. Digitale Tools schaffen daher nicht in erster Linie „mehr Zeit pro Termin“, erhöhen jedoch die Qualität innerhalb dieser Zeit und erweitern die Kapazität für eine älter werdende, multimorbide Bevölkerung. Für Alexander Moussa beginnt ein guter Termin damit, dass Patient:innen ankommen dürfen – mehrere Behandlungsräume erleichtern dieses kurze Durchatmen. Dann heißt es zuhören: ausreden lassen, Bedürfnisse aufnehmen und erst danach strukturieren. Behandelt wird mit Maß und Ziel, Übertherapie wird vermieden – ganz im Sinne der Quartärprävention, also der gezielten Vermeidung unnötiger Diagnostik und Therapien. Und statt eines einmaligen Kontakts setzt der Allgemeinmediziner auf geteilte Verantwortung und kontinuierliche Begleitung – als verlässlicher Lotse durch den Versorgungsalltag. So entsteht Sicherheit im Alltag und im besten Fall gewinnen Patient:innen dadurch mehr gesunde Lebensjahre.